Ein Blick auf die historische Luftaufnahme aus der Bauzeit des Mainzer Rathauskomplexes führt dem Betrachter unmittelbar einen wesentlichen städtebaulichen Aspekt des damaligen Zeitgeists in der Planung von Arne Jacobsen und Otto Weitling vor Augen: Das Modell der autogerechten Stadt, realisiert durch die Trennung der Verkehrsflächen für Fußgänger und für den Autoverkehr. Als herausragendes Beispiel dieses Zeitgeists gilt der Barbican complex in London, erdacht als „complete separation of pedestrians from traffic“ von Chamberlin, Powell und Bon in den 1950er Jahren, realisiert ebenfalls in den 1970er Jahren. Auch in Mainz waren die in den 1950er Jahren entwickelten Ideen einer großzügigen, den motorisierten Individualverkehr präferierenden Verkehrsplanung noch in den 1970er Jahren bei der Konzeption des Rathauskomplexes am Rhein unverändert virulent. Der Falkplan von 1974 jedenfalls zeigt die Fernverkehrslinie und Bundesstraße B9 als deutliche Zäsur zwischen Altstadt und Rheinufer, die bis heute ihre trennende Wirkung nicht eingebüßt hat. Das neue Mainzer Rathaus am Rhein sollte nach dem Willen der Planer für die Fußgänger und Rathausbesucher nicht durch die Rheinstraße von der Altstadt getrennt, sondern in überzeugender Weise in eine durchgehende Verbindung zum Flussufer einbezogen werden. Zum autogerechten Konzept gehört bis heute der Komplex der Tief- und Hochgarage über mehrere Ebenen neben dem Rathausgebäude als Substruktion des höhergelegenen Rathausplateaus, das nach dem damaligen Bauherrn und Oberbürgermeister „Jockel-Fuchs-Platz“ benannt ist.
Die anlässlich der Einweihung gedruckte Broschüre führt diese Gedanken näher aus: „Um diesen Ort intensiv mit Stadt und Rheinufer zu verbinden, wurde ein Wegenetz geschaffen, das Fußgänger und fahrenden Verkehr getrennt voneinander und gleichermaßen ungehindert heranführt. Die Anbindung von der Altstadt her erfolgt durch das Geschäftszentrum Brand über differenzierte Wege, die sich allmählich vom Niveau motorisierten Verkehrs abheben und schließlich kreuzungsfrei vom Brand zu Rathaus und Rheingoldhalle und hinab zum Rhein führen.“
Die durch einen dreifachen Brückenschlag für die Fußgänger erreichte Verbindung zwischen Rathausplatzplateau und Rheingoldhalle, fünf Meter oberhalb der Gasse, die in Verlängerung der Quintinsstraße zum Rhein führte, ist allerdings seit der Erweiterung der Stadthalle bis zum Jockel-Fuchs-Platz Geschichte. Mit dieser gravierenden Änderung – vor Unterschutzstellung der „Denkmalzone Rathaus“ – ist an dieser Stelle auch die barrierefreie Zuwegung zum Rheinufer untergegangen, die über eine gestalterisch einzigartige Rampenspindel erfolgte.
Der vom Brand kommende Besucher überquert die Rheinstraße fast unmerklich auf einer breiten Brücke, bevor er dann auf den Jockel-Fuchs-Platz tritt. Zum Rathaus führt ihn eine Treppe zum tiefer gelegenen Eingangsbereich des Gebäudes. Repräsentative Fahnenmasten vor der Brüstungsmauer zum Rheinufer hin und „Kunst am Bau“ schmücken den Rathausvorplatz neben der an der Rheinstraße gelegenen Pergolazone mit Sitzbänken und (derzeit als Blumenbeete bepflanzten) Wasserspielen. Wegen der Unterbauung fehlt dem mit einem Plattenbelag aus Betonsteinen versiegelten Platz die Möglichkeit einer intensiveren Begrünung. Eine wohl als Treppe geplante Wegeführung parallel zur Rheinuferpromenade direkt vor dem Rheinflügel des Rathauses mit den Sitzungssälen wurde nicht ausgeführt, sondern als Folge zweier steiler unbegehbarer Rampen gestaltet. Die mündliche Überlieferung schreibt diese Planänderung dem damaligen Bauherrn zu, der jedwede Beeinträchtigung des Dienstbetriebs in den Rathausräumen durch flanierende Passanten direkt vor der Hausfassade vermeiden wollte. Eine barrierefreie Verbindung zwischen dem tiefergelegenen Rheinufer und dem Rathausplatz liegt versteckt als Aufzug und Rolltreppe im nördlichen Eckpavillon.
Als Akzentuierung der Übergänge zwischen den einzelnen Zonen ihres Mainzer Architekturensembles komponierten Jacobsen und Weitling deutlich fühlbare Schwellen.
Eine solche Schwellenwirkung bewirkt auch die „tief eingeschnittene Treppe“, die sich zwischen Scherwänden parallel zur Rheinuferpromenade verbirgt und vom Rheinufer aus mit überraschender Blickperspektive für den Besucher auf Rathaus, Dom und Stadt aufwartet.
Besonders von der Kasteler Rheinuferseite ist die herausragende städtebauliche Wirkung des Rathauses wahrnehmbar. Eingerahmt von dem blockhaften siebengeschossigen Verwaltungskomplex mit dominanter Natursteinfassade und akzentuierenden Gitterrosten zwischen trennenden Stützen liegt der niedrigere solitäre Kubus des Ratssaals als funktionales und parlamentarisches Zentrum. Dem Rheinflügel vorgelagert steigt flussabwärts die Platzwand zwischen Rathaus und Stadthalle an, den Rampenschrägen folgend. Eckpunkt des Plateaus, hinter dessen Wandabschluss sich zum Rheinufer der mehrgeschossige Garagenbau verbirgt, bildet der leicht aus dem rechten Winkel des Platzrasters gedrehte niedrige Eckpavillon des ehem. Rathaus-Cafés, der heute vom Vordach der Rheingoldhalle überragt wird. Die erwähnte tief eingeschnittene Treppe in direkter Nähe zum Cafépavillon zwischen parallel verlaufenden Scherwänden ist vom Kasteler Ufer aus nicht sichtbar und nimmt Rücksicht auf die klare Kubatur des Plateaus.
Die Beibehaltung der Brücke als separierte barrierefreie Fußgängerverbindung vom Geschäftszentrum am Brand zum Rathausplatz und vor allem die geplante Sanierung der nach wie vor intensiv genutzten Tief- bzw. Hochgarage in direkter funktionaler Verbindung zum Rathaus zeugt davon, dass die Idee der autogerechten Stadt, wie Christoph Bernhardt 2017 bemerkte, „längst beerdigt und doch quicklebendig“ ist. Davon können auch die Versuche zur Verkehrstransformation in vielen Städten weg vom motorisierten Individualverkehr (MIV) aus Gründen des Klimawandels und der Stickstoffbelastung nicht ablenken.
Im Zuge der anstehenden Tiefgaragensanierung soll auf Wunsch des Stadtrats auch eine großzügige Freitreppe den Bürgerinnen und Bürgern eine sichtbarere Verbindung zwischen Stadt und Rheinufer bieten. Diverse Varianten stehen zur Diskussion, die derzeit zwischen der Mainzer Aufbaugesellschaft (mag) und den Denkmalbehörden intern besprochen werden. Der Diskussionsprozess wird von der Lokalpresse begleitet und inhaltlich für die Lösung zu Gunsten einer großen Freitreppe positiv kommentiert. Kriterien der zukünftigen Entscheidung zwischen den Varianten, die auch die städtebauliche und gestalterische Qualität des Konzepts von Arne Jacobsen zu berücksichtigen hat, werden der Öffentlichkeit dabei nicht transparent vermittelt. Als Alternativen stehen seitens des Auftraggebers im Raum:
- eine große Freitreppe über Eck vom Nordpavillon bis zur Mitte der Rheinflügelfassade reichend und bis zur Uferwand des Pavillons vortretend
- eine zur Hälfte verkürzte Freitreppe vom Nordpavillon aus, wenige Meter vor der Steilrampe im Süden endend
- eine kleine Freitreppe direkt neben dem Nordpavillon, etwa eine halbe Pavillonlänge breit
- eine kleine Freitreppe in Trichterform, sechs Stufen vor die Platz- und Garagenwand vorkragend
Diese Varianten wurden im Oktober 2020 intern diskutiert und in der Sitzung des Planungsbeirats öffentlich gemacht. Im Vorfeld der weiteren Besprechung Anfang Februar wurde von der Denkmalfachbehörde ein Kompromissvorschlag erarbeitet, dem folgende Überlegungen in der Bewertung aller Varianten zugrunde liegen:
Einer großen Freitreppe mit kompletter Aufgabe der Schwellenwirkung des Rathausplatzes zum Rheinufer kann aus Gründen der Eingriffsminimierung und der von Jacobsen verfolgten städtebaulichen Wirkung der baulichen Gesamtanlage denkmalfachlich nicht zugestimmt werden. Diese Lösung bedingt zudem die Aufgabe der Platzmöblierung mit den Fahnen und dem Kunstwerk von Arp. Sie beeinträchtigt die Nutzung, aber auch die Würde eines Rathauses mit der hier arbeitenden Verwaltung durch den vorhersehbaren Lärmpegel und die Vermüllung durch „Eventisierung“ sowie den mangelnden Schutz vor indiskreten Einblicken an der Rheinflügelfassade. Darüber hinaus entstehen Probleme der Verortung der Lüftungsöffnungen für die Tiefgarage, die vor der Uferwand der Garage mindestens 0,4 m über dem Niveau der Promenade angebracht sein müssen.
Die halbierte Freitreppe neben dem Nordpavillon und parallel zu ihm bis wenige Meter vor der Steilrampe reichend zerstört die Wirkung eines Stadtbalkons, indem sie diesen zu sehr reduziert und zum Podest vor der neuen Treppe Richtung Süden degradiert. Die Kunst am Bau von Arp wäre ein Hindernis im Laufweg. Positiv ist allerdings zu vermerken, dass er die Abschlussachse der Platzwand zum Rheinufer hin respektiert.
Die kleine, neben dem Nordpavillon und parallel zu ihm ausgerichtete Freitreppe nimmt etwa die Fläche der bestehenden eingeschnittenen Treppe ein. Ihre Lage abseits vom Rathausbau auf der bestehenden Fläche ist zunächst positiv zu bewerten. Allerdings wirkt sie städtebaulich wenig harmonisch. Die Parallelität zur Wand des Eckpavillons und das Vortreten vor die Garagenplateauwand sind gestalterisch von Nachteil.
Die kleine Freitreppe in Trichterform hat ebenfalls städtebauliche und funktionale Mängel. Der schräge Verlauf findet kein Pendant in der Gesamtanlage des Komplexes und wirkt daher willkürlich gewählt. Bei Besucherandrang könnte sich eine trichterförmige Verengung im Treppenverlauf im Falle einer Massenpanik verheerend auswirken. Die Überschreitung der bestehenden Wandkontur zum Rheinufer hin mit fünf Stufen wirkt gestalterisch unglücklich.
Mit der Kompromisslösung seitens des Denkmalfachbehörde sind folgende Gedanken verbunden:
Da durch die massiven Eingriffe der Vergangenheit das Konzept der fußläufigen und großzügigen Verbindung von der Stadt zum Rheinufer gestört wurde, ist eine ausgewogene Neuorientierung der bestehenden Schertreppe möglich. Die von Jacobsen gewollte Schwellenwirkung muss allerdings durch Erhaltung des „Stadtbalkons“ mit den an die Brüstung gestellten repräsentativen Fahnen als Ausdruck des bürgerschaftlichen Gemeinschaftswillens und auch mit dem wertvollen Arp`schen Kunstwerk aufrechterhalten werden. Daraus ergibt sich die maximale Breite der Freitreppe, die durch die Umgestaltung der bisherigen Rampen zu einer Treppe in südlicher Richtung noch ergänzt wird. Die Grundfläche der neuen nördlichen Freitreppe ist leicht trapezförmig, da ihr südlicher Abschluss in Verlängerung der Platzfelderung die Ausrichtung des Ratssaalkubus aufnimmt. Die Freitreppe schließt zum Rheinufer bündig mit der Platzwand der Hochgarage ab und hält aus funktionalen Gründen ausreichend Abstand vom Rathaus. Kleine Sitzstufen könnten ergänzend am Rheinufer vor der Platzwand verortet werden, die die Lüftungsschächte allerdings integrieren müssten.
23.03.2021
Dr. Roswitha Kaiser, Landeskonservatorin